unnatural

unnatural

12.07.2019 – 09.08.2019

Lichthof Ost in der Humboldt-Universität zu Berlin

Ausstellungsplakat
unnatural © Charlotte Hansel
© graphic design by Charlotte Hansel in collaboration with Susi Hinz

Der Naturforscher Charles Darwin definierte die natürliche Selektion als Prinzip der Erhaltung jeder kleinsten, sofern nützlichen Variation. Seine Evolutionstheorie erklärte auf einfache Weise den Mechanismus der Artenvariation im Pflanzen- und Tierreich. Der Mensch war nicht länger „Krone der Schöpfung“ sondern Teil eines natürlichen Ausleseverfahrens, in welchem er sich durch nützliche Eigenschaften gegen andere Spezies durchgesetzt hatte.

Doch unterliegt der Mensch in dem von ihm eigens hervorgebrachten sozialen Gefüge heute ganz anderen, alltäglichen Selektionsmechanismen – und mehr noch: er selbst selektiert. Während der Mensch zwar die Gesetze der Natur seit jeher zu durchdringen versucht, sich ihrer aneignet und sie für seine eigenen Zwecke nutzbar macht, trifft er Entscheidungen auf Grund eines eigens erfundenen Wertesystems, denen sich seine Umwelt beugen muss. So wurde er zu einem entscheidenden Selektionsfaktor der natürlichen Auslese. Kann jedoch das bewusste Selektieren des Menschen noch als ein natürliches oder muss es als ein unnatürliches verstanden werden?

Die Ausstellung unnatural widmet sich der Dichotomie von Mensch und Natur. Sechs Künstler*innen thematisieren die menschliche Faszination für, wie auch seinen Einfluss auf natürliche Kreisläufe und deren Folgen im Zeitalter des Anthropozäns. Vom Menschen verursachte Naturkatastrophen, der Versuch, Prozesse der Natur nachzuahmen wie auch das Prinzip des Sammelns organischer Materialien werden in den Arbeiten aufgenommen, um einen Diskurs über natürliche wie unnatürliche Selektionsmechanismen anzuregen.

Rahmenprogramm

Vortrag: Prof. Dr. Philipp Sarasin: Darwins ‚natural selection‘
Freitag, 12. Juli 2019, 17 Uhr
Unter den Linden 6, Hörsaal 3075

Filmscreening: Robert Smithson: Spiral Jetty, 1970, 35’, 16mm
25. Juli 2019, 18.30 Uhr
Lichthof Ost, Unter den Linden 6

Vortrag: Prof. Dr. Anke te Heesen: Kastenräume. Zur Geschichte eingefriedeter Pflanzen
Mittwoch, 7. August 2019, 18.15-20 Uhr
Unter den Linden 6, Hörsaal 3075

Werkliste

Saskia Krafft: Salton Sea, 2018

In ihrer Stahlskulptur thematisiert die New Yorker Künstlerin Saskia Krafft die menschlichen Einflüsse auf Kaliforniens Landschaftsgebiet Salton Sea. Der Binnensee entstand 1905-07 durch eine Überschwemmung des Colorado Rivers und wird durch die Abflüsse der landwirtschaftlichen Bewässerung gespeist. Dieses Abwasser der umliegenden Dattelpalmplantagen verschmutzt den See, steigert seinen Salzgehalt, beschleunigt die Verdunstung des Wassers und zerstört somit den Lebensraum zahlreicher Tiere. Für ihre Arbeit sammelte Krafft abgestorbene Seepocken des immer stärker ans Licht tretenden Flussbettes. Die mit Kupferdraht auf Stahlstreifen gebundenen tierischen Überreste erzeugen die Form einer Dattelpalmwedel. Durch diesen Kontrast, der Verwendung von abgestorbenen Naturmaterialien und der Nachbildung eines Pflanzenelements aus Stahl, sowie dem Kontext der Geschichte des Naturgebiets Salton Sea, stellt Krafft die massiven menschlichen Einwirkungen auf natürliche Kreisläufe zur Diskussion.

Silvia Noronha: Future Stones, 2017

Ausgehend von der Naturkatastrophe am 5. November 2015, bei welcher der Damm eines Rückhaltebeckens in Brasilien gebrochen war und Dörfer wie Bento Rodrigues mit Schlammwellen giftiger Minenabfälle überflutet wurden, fertigte die

brasilianische Künstlerin Silvia Noronha ihre Arbeit Future Stones. Sie sammelte kontaminierte Bodenproben vor Ort und stellte, in Kooperation mit dem Institut für Angewandte Geowissenshaften und dem Geochemischen Labor der TU Berlin, durch Anwendung von hohem Druck und Temperaturen Steine der Zukunft her. Steine, welche als Medium Informationen über ihre Zeit konservieren, werden in Noronhas experimenteller Arbeit zu einer pseudo-alchemistischen, spekulativen Prognose einer post-humanen Geologie. Damit thematisiert sie die zunehmend prekären Interferenzen zwischen einer natürlichen Ökologie und dem menschlichen Einfluss auf diese sowie der Entwicklung einer menschlich generierten „next nature“.

Markus Wirthmann: Fleur de Sel, 2011

In seinen Salzskulpturen Fleur de Sel lässt der Berliner Künstler Markus Wirthmann natürliche Prozesse für sich arbeiten. Filigrane Salzgebilde formen sich um die für mehrere Wochen und Monate in verschiedene Salzlösungen gestellten Holzstäbchen. Durch die Verdunstung des Wassers und die unterschiedlichen Salzmischungen entsteht ein Ensemble einzigartiger, verschiedenfarbiger, kristalliner Formen, welche sich zwischen Naturprozessen und Kunstproduktion, natürlicher Anmut und Abgabe der künstlerischen Gestaltungskontrolle bewegen.

Nina Schuiki: Everything Is Not Lost, 2016

Die Perlenkette der österreichischen Künstlerin Nina Schuiki ist ein Spiel mit Material, Inhalt und Kultur. 628 zunächst gleich aussehende Holzperlen wurden aus kulturellen Objekten wie Fensterrahmen, Möbelstücken oder Alltagsgegenständen aus Österreich, Deutschland und China in Handarbeit angefertigt und zu einer 12,88 Meter langen Kette zusammengefügt. In diesem Prozess wird das aus einem natürlichen Rohstoff hergestellte Zeugnis menschlicher Kultur wieder auf sein ursprüngliches Material zurückgeführt. Ein genaues Betrachten der Kette lässt kleine Unterschiede in der Maserung, Farbgebung und Form der einzelnen Perlen erkennen. Entfremdet von ihrer ursprünglichen Funktion und gleichförmig aneinandergereiht, lassen die einzelnen Perlen im Gesamtgefüge der Ketteauf Grund dieser Differenzen noch immer unterschiedliche Geschichten erahnen. Gleichzeitig stellt die Perlenkette ein genuin kulturelles Objekt dar, wodurch in Everything Is Not Lost ein spielerischer Tanz zwischen natürlichem Rohstoff und kulturellem Inhalt eröffnet wird.

Nina Schuiki: I still see you in everything, 2018

In Nina Schuikis Werk I still see you in everything wird die Herausforderung einer Unterscheidung von natürlichen und unnatürlichen Prozessen und Elementen ins Licht gerückt. Eine menschliche Träne, luftdicht zwischen zwei Glasträgern verschlossen, befindet sich durch die Wärme des Diaprojektors in einem geschlossenen Kreislauf der Kondensation. Die runde Projektion an der Wand, anhand welcher sich die ständig verändernden Strukturen des Wassers mitverfolgen lassen, überwindet somit das Standbild und zugleich die natürliche Kristallisation der Träne.

Mark Dion:

When Dinosaurs Ruled the Earth, 2013

Invasive Plant Eradication Unit (field rover), 2008

In seinen Zeichnungen stellt der amerikanische Künstler Mark Dion den Menschen und seine Erzeugnisse der Natur gegenüber. Menschliche Werkzeuge werden als Gefahren für die Natur dargestellt oder Kunstrichtungen einzelnen Knochen eines Dinosaurierskeletts zugeordnet. Spielerisch, humorvoll und ohne Anklage verweist Dion mit seinen zweifarbigen Zeichnungen auf die Skurrilitäten des Zusammentreffens von Mensch und Natur. Im Zusammenspiel von Motiv und Titel ist der Betrachter eingeladen über die Schnittmengen von menschlicher Kultur und der ihm begegnenden Natur zu reflektieren.

Duy Hoàng: Instars, 2019

Die Arbeit des vietnamesischen Künstlers Duy Hoàng Instars wurde eigens für die Ausstellung unnatural gefertigt. Während der Vorbereitung und Dauer der Ausstellung schickt der Künstler Briefe an die Kleine Humboldt Galerie mit Alltagszeugnissen aus seiner jeweiligen Umgebung. Diese umfassen Zeichnungen, gepresste Pflanzenteile, Zeitungsausschnitte oder Stadtkarten. Auf diese Weise wirft Hoàng Licht auf die uns umgebenden Alltagsbanalitäten, wie Pflanzen am Straßenrand, Insekten, Kassenzettel und Zugtickets. Der nostalgischen Kommunikationsform des Briefes wird die globale Lebensweise des Künstlers entgegengesetzt, da er seine Nachrichten aus verschiedenen Orten der Welt verschickt. Somit eröffnet Instars einen Dialog zwischen Nostalgie und Gegenwart – Natur undAlltagskultur – Tradition und Fortschritt.

Jonathan Banz und Nicolò Krättli: Bruchstücke einer Aussicht, 2018

Ausgehend von einem Bewegtbild fertigten die Schweizer Künstler Nicolò Krättli und Jonathan Banz in Bruchstücke einer Aussicht artifiziell hergestellte Steine. Das diesen Steinen zu Grunde liegende Video dokumentiert in zwölf Stunden den Ausblick über der Stadt Cully in die französischen Berge von der Morgendämmerung bis zum Nachmittag. Im farbigen 3-D-Druckverfahren wurde das zweidimensionale Bild in die dreidimensionale Form von fünf Steinen übertragen, welche am Ort des Filmens vorgefunden wurden. Jede Druckschicht besteht aus einem einzelnen Frame (Standbild) des Videos. Da die Steinform lediglich Fragmente der einzelnen Bilder an den Kanten sichtbar macht, wird die Oberfläche zu einem Display unterschiedlicher Zeiten. In Bruchstücke einer Aussicht ist damitein Zeitausschnitt materialisiert und archiviert, wobei Elemente der Natur, wie Himmel und Stein zum zeitgenössischen Kulturdokument transformiert werden. Für eine Betrachtung der einzelnen Bilder müssten die Steine aufgeschnitten und die Verwebung von physischem Speichermedium und Naturkopie zerstört werden. Auf diese Weise hinterfragt die Arbeit von Krättli und Banz sowohl die zeitgenössische und zukünftige Speicherung digitalen Materials, wie auch die Ansichten von Natur im Zeitalter des Anthropozäns.

Robert Smithson: Spiral Jetty, 1970

Robert Smithsons Spiral Jetty aus dem Jahr 1970 steht als Ikone für die Land Art. Das Werk setzt sich zusammen aus dem site vor Ort, einem 5 m breiten und 500 m langen, spiralförmigen Steg aus 7000 Tonnen Basaltsteinen am Salt Lake in Utah sowie mehreren non-sites, wie Zeichnungen, Fotografien und einem 35-minütigen 16 mm Farbfilm. Auf Grund des zwar physischen, jedoch nicht mobilen und nur schwer zugänglichen site, dem spiralförmigen Steg in Utah, sind die non-sites, die Zeugnisse der Arbeit im Galerieraum, wie auch der begleitende Essay, unabdingbar für die Rezeption des Werkes. Sie stehen heute nicht weniger ikonisch für das Werk. Aus den vor Ort gefundenen Steinen gebaut und heute ausschließlich vom Luftraum in der Natur sichtbar, markiert Spiral Jetty als Kunstwerk einen zentralen Ausgangspunkt der künstlerischen Praxis mit und in der Natur. Das ortsgebundene Werk wurde auf langsames Erodieren angelegt und befindet sich unfern einer Industrieruine früherer Ölförderung aus den 1920er Jahren. Dies verdeutlicht Smithsons kritische Betrachtung der Dichotomie von Mensch und Natur, welche in seinen Schriften und Werken immer wieder hervorkommt. Bereits 1973 jedoch verschwand der spiralförmige Steg unter der, durch das Schmelzwasser der umliegenden Berge steigenden Wasseroberfläche, bis es 2002 mit einer starken Salzverkrustung der Steine wieder auftauchte. Dieser Prozess zeigt heute, dass Smithsons künstlerische Spur in der Natur deutlich stärker den menschenbedingten klimatischen Veränderungen ausgesetzt ist, als es für den Künstler vorhersehbar war.

Künstler*innen

Jonathan Banz
Mark Dion
Duy Hoàng
Saskia Krafft
Nicolò Krättli
Silvia Noronha
Nina Schuiki
Robert Smithson
Markus Wirthmann

Kuratiert von Julia Modes und Lotte Willhelm.

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